Illustration | Person mit Tortenstück als Hut am Kopf

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Wien? Multiple Persönlichkeiten

„Abschottung garantiert Provinzialismus“

Wien hat eine Persönlichkeitsstörung. Trotzdem fällt die Diagnose positiv aus, wenn man die Stadt Sigmund Freuds zur Analyse auf die Couch legt – findet der Direktor des Wien Museums, Matti Bunzl. Der ist zwar kein Psychiater, aber ein hervorragender Kenner der Stadt und typischer Wiener. Ein spezielles Interview.

lllustration | Sigmund Freud mit Sachertorte und Kaffeetasse auf der Therapiecouch

Wie würden Sie Wien beschreiben, wenn es sich um eine Person handelte?

Wenn ich diese Stadt als Charakter beschreiben würde, wäre es im Grunde eine multiple Persönlichkeit mit einer Störung. Diese Person wäre ein bisschen schizophren, aber das ist auch toll. Es gibt viele Wiens gleichzeitig. Ich kann in einem Wien leben, das ist ein Wien von globaler Avantgardekunst, oder in einem Wien von Trachtenvereinen, oder in einem von gediegenem Handwerk. Das existiert alles parallel. 

Kann man das nicht von allen Städten sagen?

Das geht nur in großen Städten, die wirklich divers sind und diese Gleichzeitigkeit zulassen. Und ich hab noch gar nicht über die verschiedenen Ethnien gesprochen. Natürlich gibt es auch ein türkisches Wien, zum Beispiel.

Welche Neurosen hat Wien?

Natürlich ein fundamentales historisches Trauma. Wien in seiner Pracht und Größe war die Hauptstadt eines Riesenreiches. Jetzt ist es die Hauptstadt eines nur mäßig bedeutsamen Staates. 

Und Sie meinen das wirkt noch nach?

Es erklärt für mich zum Beispiel diese exzessive Nostalgie für die Habsburger. Solche Schocks sind nicht immer nur schlecht

Auch der Tourismus lebt von der imperialen Kulisse. Hat das auch unerwünschte Nebenwirkungen?

Ich halte das für harmlos. Es ist im Grunde folkloristisch – und ein wenig ironisch, weil die Republik Österreich die kaiserliche Familie rigoros rausgeschmissen hat, jetzt aber sehr viel Geschäft mit ihr macht.

Ist Wien charmant?

Nein, Wien tut charmant. Eine Geste wie “Küss’ die Hand” ist einfach nur schal. Ich finde Wien ist voller Floskeln, die eigentlich leer sind. Die Titelgeilheit etwa finde ich absurd. Was für mich Wien ausmacht, ist diese wirkliche Lebensqualität, dass man, auch wenn man nicht reich ist, hier wunderbar leben und essen kann, ein unglaubliches Freizeitangebot hat und Parks und Natur. Das ist das Wien, das mich begeistert.

Finden Sie den Wiener Schmäh lustig?

Nein, ich nicht. Wenn der Schmäh rennt, werden derbe Witze gemacht. Mir ist das feingeistige und hintergründige lieber, dann wird präzise zynisch kritisiert. Das gefällt mir besser.

Haben die Wiener:innen ein realistisches Bild von ihrer Stadt?

Als jemand, der lange im Ausland gelebt hat, habe ich das Gefühl, dass viele Wiener:innen ohne diesen Außenblick gar nicht nachvollziehen können, wie gut Wien funktioniert. Für uns ist vieles selbstverständlich, die tollen öffentlichen Verkehrsmittel zum Beispiel. Zugleich bin ich gelernter Wiener und es regt mich irrsinnig auf, wenn die Straßenbahn einmal fünf Minuten zu spät kommt.

Ist das auch Wienerisch, das Raunzen?

Es ist schon erstaunlich, dass wir in einer Stadt, in der es uns objektiv verdammt gut geht, auch sehr viel jammern. Es ist so ein bisschen weinerlich, aber auch irgendwie sympathisch. Dieses Klischee stimmt bis zu einem gewissen Grad. Auch diese Gemütlichkeit ist nicht ganz falsch. Vielleicht kann man das auch mit den verschiedenen kulturellen Zusammenflüssen erklären, die Wien extrem geprägt haben. 

Unterscheidet das Wien von anderen Großstädten?

Auch London, Paris oder Berlin sind im späten 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung massiv gewachsen. Aber in Wien verlief die Urbanisierung viel multikultureller. Da gab es Migrationsbewegungen aus der gesamten Monarchie. Diese Diversität ist in der DNA der Stadt stark verankert. 

Trotz der großen Brüche der Kriege, des Faschismus und der Verwandlung in einen Kleinstaat am Eisernen Vorhang nach 1945?

Wien ist nach wie vor eine Stadt, deren kulturelle Dichte und Vielfalt seinesgleichen sucht. Es ist auch die Stadt mit den meisten Menschen, die in einem städtischen oder städtisch geförderten Wohnbau leben. Dieser strukturelle Vorteil geht auf das sozialdemokratische Rote Wien zurück. Das macht etwas mit einer Stadt. Wir haben auch ein Problem mit Wohnungskosten und Mieten, aber es ist ungleich kleiner als in vergleichbaren Städten. 

Zugleich gewinnen politische Ideen der Abschottung an Attraktivität. Dienen Einrichtungen wie das Wien Mesum auch zur Verhandlung von Zukunftsideen?

Die Implikationen von geschichtlichem Wissen für heute und morgen sind unglaublich fesselnd. Daran teilzuhaben und das gemeinsam zu verhandeln, ist unser Ziel. Wir wollen die Geschichte Wiens darstellen, wie sie einfach ist. Und hätte Wien sich historisch abgeschottet, wäre es heute eine Kleinstadt. Abschottung garantiert Provinzialismus. Das in einer global vernetzten Weltstadt zu tun, wäre aber eh unmöglich. Was soll das überhaupt heißen, Abschottung? Keine Migration mehr, die Bevölkerung schrumpft? Wohin soll das führen?

Wien braucht also Wachstum?

Ich hoffe auf gut organisiertes, sanftes Wachstum. Ich finde, wir müssen nicht explodieren und eine Megastadt wie Tokio werden. 

Welche Rolle hat der Tourismus für das Wachstum Wiens gespielt?

Eine sehr wichtige. Der erste Versuch, Tourismus in Wien zu institutionalisieren, war für die Weltausstellung 1873. Da wurden die großen Hotels gebaut. Von den erwarteten 20 Millionen Gästen sind dann nur sieben gekommen – das war natürlich ein Fiasko. Dann hat man um die Jahrhundertwende schon probiert, Tourismus zu organisieren. Mit dem Nationalsozialismus ist das kollabiert und hat sich erst ganz langsam erholt. In den späten 1960er- und vor allem in den 1970er-Jahren begann dann ein Aufschwung. Der Tourismus, wie wir ihn heute kennen, stammt aus den 1980ern, da gab es große Ausstellungen zum Wien um 1900, die dann in Paris und New York gezeigt wurden. 

Hat Wachstum nicht auch einen negativen Beigeschmack für viele Menschen?

Ich liebe eine Stadt, die pulsiert, wo viele verschiedene Menschen aus vielen Ländern da sind. Zugleich verstehe ich die Ängste, dass sich Wien stark verändert und neue Bevölkerungsschichten dazukommen. Liebe ich es, mir meinen Weg durch die Menschenmassen auf der Kärntnerstraße zu bahnen? Nicht wahnsinnig. Aber es ist auch ein Zeichen, dass wir eine attraktive Stadt sind – und Menschen anziehen, vor allem aus der Europäischen Union. 1987 hatte Wien 1,5 Millionen Einwohner:innen, heute sind es zwei. Da ist viel Dynamik, die Vitalität produziert. Wir sind vom Alter der Bevölkerung her das jüngste Bundesland Österreichs.

Kommen seit der Neueröffnung des Wien Museums mehr Tourist:innen in ihr Museum?

Wir sind das Museum der Wiener:innen. Aber ich freue mich wahnsinnig über Tourist:innen, und ja, es sind mehr geworden. Für mich ist eindeutig, welche Besucher:innen wir anziehen: Das sind nicht die, die Europa in 10 Tagen machen. Es sind die, die Wien für sich entdeckt haben, gerne wiederkehren, und wirklich das Sein erkunden und erleben wollen, nicht nur den schönen Schein. 

Sigmund Freud meinte sogar, dass alles, was die Kulturentwicklung fördert, auch gegen den Krieg arbeitet.

Naja, er hat auch ganz andere Sachen gesagt. Da kommt es auf den Kulturbegriff an. Für mich sind die soziologischen Diagnosen vom Sigmund Freund vergleichbar mit den Diagnosen von Thomas Bernhard. Sie sind geistreich, aber als professioneller Historiker hält man sich nicht an solche Leute. Man liest sie eher zum Spaß.

Ist Wien provinziell?

Nein, Österreich hat etwas provinzielles, aber nicht Wien. Wien ist eine der fünf größten Städte in der EU.

Und doch steckt etwas Abseitiges in den Österreicher:innen. Ihre Mentalität sei wie ein Punschkrapfen, besagt ein Vergleich: außen rot, innen braun und immer ein bisschen betrunken.

Die bessere Metapher ist für mich das Radfahrerprinzip: nach unten strampeln und nach oben buckeln. Das gibt’s sehr viel.

Das ist wahrscheinlich eine Seite, die Tourist:innen nicht so mitbekommen.

Wahrscheinlich das Buckeln schon, weil viele Menschen Tourist:innen gegenüber übertrieben demütig und manchmal auch falsch freundlich auftreten. Ich habe ganz viele Freund:innen, die Wien besuchen, und die sagen immer: Es gibt kaum eine schönere Stadt um Tourist:in zu sein, weil es hier herrlich ist. What is not to love?

Haben Sie einen Traum vom Wien der Zukunft?

Andere Städte sind viel aggressiver im Bekämpfen des Verkehrs. Paris, von Kopenhagen ganz zu schweigen. Also da geht noch viel mehr. Ich glaube, es ist uns allen bewusst, dass wir dahin müssen. Das ist nicht leicht, alles politisch hoch diffizil. Ich träume von einem noch besseren öffentlichen Verkehr. Ich träume von einem Park and Ride außerhalb der Stadt, das gratis ist. Ich träume von einer verkehrsberuhigten Innenstadt. Und von einer autofreien Ringstraße: Wie geil wäre das? Ich meine, das wäre ein Traum.
 

Interview: Stefan Müller, Freshwords

Zur Person

Matti Bunzl, Direktor des Wien Museums. Historiker und Kulturanthropologe. Geboren 1971 in Wien. Studium in den USA, Lehrtätigkeit an der University of Illinois 1998-2014, bevor er 2015 die künstlerisch-wissenschaftliche Leitung des Wien Museums übernahm. Seit einem Umbau und der Neueröffnung im Dezember 2023 sind die Besucherzahlen in die Höhe geschossen.