Plädoyer für das Reisen
Die Schule des Staunens
- Warum wir das Reisen lieben und brauchen.
Es mag Gründe geben, nicht zu reisen. Man könnte ausgeraubt, belogen und betrogen werden. Man könnte sich verirren, verlaufen und verloren gehen. Ja, all das könnte passieren, und wenn es geschieht, ist es zweifelsohne unangenehm und verstörend. Bei genauerer Betrachtung aber sind solcherart Grenzerfahrungen erstens selten und ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie passieren, zweitens relativ gering. So gesehen ist der Mut zur Offenheit eine kleine Investition für die Möglichkeit der großen Rendite des Reisens, sich selbst zu erkennen und die Welt durch ihre Bereisung womöglich ein bisschen besser zu machen. Wer reist, kommt ja meist als Anderer und Andere zurück, oft genug findet eine Verwandlung oder Erweiterung statt. Der Reisende ist der geworden, der er nie war; die Reisende womöglich die geworden, die zu sein sie sich nie vorstellen konnte. Wer nicht in die Welt hinausgeht, kann die Welt nicht kennen. Wer die Welt nicht kennt, kann sie nicht beurteilen. Und wer die Welt nicht mit eigenen Augen anschaut, verharrt in der Weltfremdheit reiner Weltanschauung.
Reisen adelt die Petitesse
Reisen ist ja nicht Urlauben. Zwischen Reise und Urlaub gibt es einen großen Unterschied: Urlaub ist immer schon Angekommen-Sein, Reisen immer Auf-dem-Weg-Sein. Wer reist, kommt gerade deswegen nicht an, weil er reist. Beides, Reisen wie Urlauben, hat seine absolute Berechtigung, manchmal wird ja auch der Urlaub zur Reise und umgekehrt. Reisen ist so gut wie immer eine Schule des Staunens, das die berechneten und zur Berechnung gedrängten Menschen in berechnenden Leistungsgesellschaften verloren zu haben scheinen. In einer Lebenswelt, in der alles kuratiert, vermessen und verstellt ist, könnte die Chance, sich auf das Unberechenbare und Unplanbare einzulassen, zu einer nur noch selten möglichen Glückserfahrung mit nachhaltigem Erinnerungswert führen. Reisen heißt doch, sich zur Entdeckung des Unvorhersehbaren und zur Korrektur der eigenen Vorurteile bereit zu erklären – insofern rehabilitiert das Reisen die Neugier, die die zunehmend digital-virtualisierten Zeitgenoss:innen über das ganze Followen, Sharen, Tweeten, Scrollen, Touchen und Liken vielleicht längst eingebüßt haben. Reisen schult die Wahrnehmung, sensibilisiert für das Detail und adelt die Petitesse, auf die man sonst kaum Augenmerk legen würde. Gerade in Zeiten permanenter Erregung, radikaler Beschimpfung, der Lügen und Verdächtigungen ist das Reisen ein vorzügliches Medium, der eigenen Urteilskraft vertrauen zu lernen. In einer Epoche bislang unvorstellbarer Manipulierbarkeit der Realität durch PropagandaBots oder Deepfakes mittels digitaler Intelligenz hat der Mensch des dräuenden Metaversums vielleicht nur noch auf Reisen die Chance, sich von der Wirklichkeit einer nicht-konstruierten Realität sinnlich überwältigen zu lassen.
Wucht und Macht der Authentizität des Moments
Wer reist, riecht selbst. Er sieht selbst. Er fühlt selbst. Er steuert selbst. Er denkt selbst. Er nimmt selbst wahr und nimmt sich selbst wahr. Er lässt sich auf das Unbekannte ein und spürt die Wucht und Macht der Authentizität des Moments. Er lässt sich die Entdeckung der Dinge nicht vorformulieren und die Erkundung der Nischen nicht abnehmen. Er entscheidet eigenständig, welchen Weg er gehen will, und vielleicht gerät er auf Seitenwege, Schleichpfade, auf Nebengassen und Abwege, kommt ins Abseits und strandet in Hinterhöfen, ja, aber nur so lernt man die versteckte Schönheit einer unbeleuchteten Gasse kennen und sieht in jedem Fall Wesentliches mehr als der, der nur zuhause bleibt und sich allein aufs X-Zwitschern und Gamen, auf YouTube und die Unschärfe des Hörensagens verlässt. Auf der Reise erobert man sich präzises Wissen, ohne es zu wissen. Beiläufig widerfährt dem Reisenden die durchaus herrlich banale Wirklichkeit in all ihren wundersamen Nebensächlichkeiten. Manchmal bleibt man ratlos zurück, immer aber räumt man dem Original den Vorzug vor dem Klischee ein, weshalb der Mensch durch Reisen offener, statt kleingeistiger wird. Statt in den eigenen Annahmen befangen zu bleiben, eröffnet das Reisen die Chance, unbefangen zu werden. Unbefangen zu sein heißt ja nicht, naiv, fahrlässig oder gefahrentoll agieren zu müssen; es heißt, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden, bevor man urteilt. Es heißt, Stereotype, die jede und jeder in sich trägt, auch als Stereotyp entlarven zu lernen.
Nichts zu erwarten ist eine schwere Übung
Auf Reisen steht nichts unter dem Zwang zu Effizienz und Optimierung. Die Reise ist der Grund ihrer selbst, zum Beispiel angesichts eines angekündigten Busses, der nicht fährt. Nein, falsch, der gar nicht erst kommt, obwohl der durchaus höfliche Ticketverkäufer in seinem Häuschen im Dorf am Atitlán-See in Zentralguatemala klar und deutlich gesagt hat, der Bus in die nächstgrößere Stadt komme in einer Stunde. Der Mann lügt ja nicht, er vertraut auf etwas Höheres als den Fahrplan. Aber Fakt ist: Der Bus kommt nach einer Stunde nicht. Da verspricht der Ticketverkäufer die Abfahrt des Busses in zwei Stunden, weil ihm das gerade irgendjemand zugeflüstert hat. Nach drei Stunden sagt der Ticketverkäufer, der Bus komme in vier. Nach fünf Stunden meint er sicher sagen zu können, der Bus komme heute gar nicht mehr. Er schließt sein Tickethäuschen und geht nach Hause. Ein Bus kommt ja nicht, weil ein Ticketverkäufer oder ein Fahrplan sein Kommen ankündigt; er kommt, wenn er kommt. Und wenn der durch den Anspruch auf Pünktlichkeit erzogene Wille vom Schicksal derart gehemmt wird, kann sich die Kraft einer unerklärlichen Selbstverwandlung offenbaren. Man lehrt sich selbst Gelassenheit. Nicht der hat ja Schuld, der zu spät kommt, sondern der, der die Erwartung hat, alles hätte auf den Punkt zu kommen. Was berechtigt den Menschen zu glauben, alles geschehe nach Plan, und auch noch nach seinem eigenen? Nichts zu erwarten ist eine schwere Übung für Zeitgenossen, die keine Zeit mehr haben und gelernt haben, ihr Leben mit Erwartungen zu überfrachten, um durch deren Erfüllung noch weniger Zeit zu haben. Muss man sich im anspruchsvollen Dasein arbeitsteiliger Gesellschaften denn nicht verlassen können? Ja, natürlich muss man das, aber die Frage wäre: worauf genau? Wenn der Bus, dessen Kommen angekündigt war, entweder gar nicht oder zwei Tage später kommt, hat man zwei weitere Tage und Nächte zugefallene Zeit und – nach einem frühmorgendlichen Aufstieg zum Kraterrand des Vulkans San Pedro – den womöglich schönsten je im Leben gesehenen Sonnenaufgang, den man ohne den ausbleibenden Bus nie erlebt hätte. Letztlich lautet die Lehre: Kommt der Bus nicht, lernt der Reisende Demut. Insofern könnte Reisen zu einer Umkehr der Werte und der Erkenntnis führen: Nicht in der Verschwendung von Geld liegt der wahre Luxus des Lebens, sondern in der Verschwendung von Zeit, die man nicht gehabt zu haben glaubt. Wer in eine Stadt, Region oder in ein Land reist, erobert sich damit einen Ort, indem er sich von ihm erobern lässt. Von einem Ort erobern lassen? Ja, wenn man sich möglichst vorbehaltlos in den Ort hineinwirft, um ihn lesen, hören und verstehen zu lernen. Eroberung heißt, sich ohne Vorkenntnisse vom Ort selbst verführen zu lassen, bis man sich selbst durch den Ort führen kann, weil man seine Grammatik entschlüsselt hat: die Vertikalen und Horizontalen, Winkel und Kehren, die Anordnung der Gassen, Straßen, Häuser, Plätze und Parks und die Interpunktion der Zwischenräume, in der sich die Traditionen ausdrücken. Der entschlüsselnde Blick wertet nicht. Er urteilt nicht. Er stellt fest. Er müht sich, zu finden, statt zu verwerten. Der Mensch schreitet nicht durch Erfolg und mittels Funktionalität voran, sondern durch die Erkenntnis von Fehlern, Irrtümern und Irrungen. Er lernt, indem er fragt und dadurch Anderen begegnet. Die Bereisung der Welt lehrt zum Beispiel, dass jeder Mensch überall er selbst, aber zugleich immer auch ein Fremder ist. Und womöglich werden die, die am eigenen Leib erfahren haben, wie Fremdheit in der Fremde sich anfühlt, sensibler gegenüber Fremdenfeindlichkeit im eigenen Land sein.
Paradoxie des Reisens
Zweifelsohne kann Reisen trotz aller Vorzüglichkeit auch zu Last und Belastung werden. Vor lauter Massenreisen ist der Tourismus zum Overtourism geworden; die Berichte über einheimische Bürger:innenwehren gegen Besucher:innenfluten häufen sich, Barcelona, Palma, Venedig, Dubrovnik. Der ständig gesteigerte und erweiterte Massentourismus hat ein irrwitziges Dilemma geschaffen: die Beschädigung seiner Voraussetzungen. Insofern besteht die Paradoxie des Reisens darin, dass Welterkundung zugleich auch Weltzerstörung bedeuten kann, genauer: Naturzerstörung oder Zerstörung sozialer Strukturen. Jeder Reisende, der immer zugleich auch Tourist:in ist, steckt in einem Zwiespalt. Er trägt zu einem Phänomen bei, von dem er sich selbst ausnimmt. Er ist Teil eines Problems, dessen Lösung streng genommen nur darin bestehen könnte, nicht mehr zu reisen. Verböte man nun aber zum Beispiel das Fliegen, wie neuerdings gern gefordert wird, ja schränkte man Mobilität und Reiseverkehr generell ein und glaubte, auf diese Weise Habitate zum sozial-ökologischen Vorteil der Einheimischen zu schützen, könnte genau das langfristig zu deren Nachteil geraten. Ökologisch und moralisch gedachte Nachhaltigkeit im Sinne des Verzichts und Entzugs hätten womöglich gravierende wirtschaftliche und in der Folge auch soziale Konsequenzen für Regionen, die sich auf der Suche nach Überlebensstrategien dem internationalen Tourismus bereits ausgeliefert haben und anderweitig auf den Weltmärkten kaum konkurrenzfähig sind. Zunehmend mehr Länder und Inseln haben sich den Verheißungen des immer besser organisierten Massentourismus unterworfen und entdecken im kurz hereinspringenden Gast die einzig verbliebene volkswirtschaftliche Existenzgrundlage – jeder Reisende investiert in die von ihm bereisten Gebiete mit Geld, das ohne den Reiseverkehr ausbliebe.
Neue Ethik des Tourismus
Nun also höhere soziale und ökologische Standards einer neuen Ethik des Tourismus zu fordern, schließt das Reisen ja keineswegs aus, sondern verändert es. An Dekarbonisierung und der Emissionsfreiheit von CO2-neutralen Antriebstechniken wird seit Jahren zielstrebig gearbeitet, und eines nicht fernen Tages – Optimist:innen fassen das Jahr 2035 ins Auge – könnten Flugzeuge auf Basis von Brennstoffzellentechnologie mit Wasserstoff und Schiffe auf Basis von Hybridmotoren mit Batteriestrom angetrieben werden. Des weiteren könnten sich früher oder später Magnetschwebebahnen und Hyperloops durchsetzen, die dann umweltschonender als Flugzeuge, günstiger als die Bahn und in der Summe pro Person energiesparender als alle anderen Vehikel sind. Schließlich könnte jeder Reisende in den bereisten Städten und Ländern massentouristische Infrastruktur meiden, lokale Wertschöpfungsketten unterstützen, über gesteuerte Nachfrage nachhaltige Angebote fördern und insofern den Schutz der heimischen Strukturen marktwirtschaftlich vorantreiben. Wäre es nicht denkbar, künftig jene einheimischen Familien oder Kommunen, die sich dem Fairtrade-Denken verschrieben haben, gezielt und besonders zu unterstützen? Könnte die staatliche Zertifizierung mittels eines international verbindlichen Ökosiegels nicht der entscheidende Anreiz sein, sich im Reiseland nur noch in Häuser und Hotels einzubuchen, in denen nachweislich regenerative Wasserkreisläufe etabliert sind, erneuerbare Energien generiert, regionale Produktportfolios angeboten und Zimmer- wie Reinigungspersonal gut entlohnt werden? Je mehr das Image von Städten und Regionen von der Umwelt- und Sozialverträglichkeit ihrer Betriebe abhängt, desto weniger schädlich für Umwelt und Klima wäre auch das Reisen. Und würde die einzelne Reise deshalb künftig stärker bepreist, würde der Einzelne seine Reisetätigkeit eher kontingentieren: zwei- statt viermal pro Jahr, was erstens auch kleinere Portemonnaies nicht ausschließt, zweitens das Reisen für alle nach wie vor möglich macht und drittens die Massen eindämmt.
Ein klitzekleines Stück mehr Weltfrieden
Aber wozu reisen, wenn das Klima und die Umwelt belastet wird? Wozu in ferne Gegenden aufbrechen, wenn es zur Gentrifzierung der Städte führt und sich die von Airbnb-Anbieter:innen verdrängten Einheimischen die Miete nicht mehr leisten können? Wozu unterwegs sein, wenn die globalisierte Welt ihre kulinarische Präsenz von Pasta über Humus bis Burger und Sushi ohnehin in den heimischen Wohlfühlraum bringt? Weil ebendort, im Wohlfühlraum zu Hause, jeder Quadratmeter Lebenswelt durch Vorschriften, Vorgaben und Verordnungen vorbestimmt ist. Weil der Mensch arbeitsteiliger Funktionsgesellschaften in vorgefertigten Welten aufwächst und in den auserzählten, von Ordnungsämtern überwachten Habitaten, in den regulierten Koordinatensystemen durchkalkulierter Lebenswelten mit standardisierten Abläufen sowohl Fantasie als auch Neugier erlahmen, während urbaner Stress zunimmt. Reisen eröffnet die kostbare Chance, durch Respekt vor dem anderen so gut wie immer zu höherer Zivilisiertheit beitragen zu können – aus Dankbarkeit über jede noch so kleine Verständigung, an der man beteiligt ist; aus Wertschätzung jeder noch so kleinen Zwischenmenschlichkeit, an der man teilhaben darf. Und aus Überzeugung, dass jeder leibhaftige Handschlag zwischen einander fremden Menschen – geschieht er im Verständnis füreinander und im Vertrauen zueinander – ein klitzekleines Stück mehr Weltfrieden bringt.
Der Autor Christian Schüle, geboren 1970 in Friedrichshafen am Bodensee, ist Schriftsteller, Philosoph und Publizist und lebt in Hamburg. Er hat in München und Wien Philosophie, Theologie und Politische Wissenschaften studiert. Seine mehrfach ausgezeichneten Texte erschienen und erscheinen in DIE ZEIT, mare, National Geographic und GEO. Regel - mäßig nimmt er im Bayerischen Rundfunk und auf Deutschland - funk Kultur zu Fragen der Zeit Stellung. Unter seinen bisher 14 Büchern erschien zuletzt der reisephilosophische Essay „Vom Glück, unterwegs zu sein“. Schüle hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und tritt regelmäßig als Vortragsredner auf. |